Fanfiction – zwischen Nerd-Hobby und literarischer Tradition

Fanfiction: dank „Alchemised” wieder Thema im Mainstream der Literaturwelt. Nur ein nischiges Nerd-Hobby? Zeit, mit diesem Mythos aufzuräumen!

Es war kein Wunder, dass mir der Artikel im Newsletter des Börsenblatts des deutschen Buchhandels ins Auge sprang – schließlich rechne ich nicht damit, zwischen all den Presse-Beiträgen aus der großen, ernsten Buchbranche das Wort „Fanfiction”  zu sehen. Als wäre es mit neonfarbener Tinte geschrieben. Gespannt darauf, was deutschlandfunkkultur zu dem Thema zu sagen hatte, klickte ich auf den Link. Nach der Überschrift „Fanfiction: Wenn Fans Geschichten weiterspinnen …” hätte der Tenor des Beitrags in jede Richtung gehen können.

„Die Literaturwelt beginnt, Fanfiction ernst zu nehmen”, hieß es da ein wenig großspurig gleich im ersten Absatz nach der Einleitung. Eifriges Nicken meinerseits, während ich die Kopfhörer aufsetzte, um den dazugehörigen Radio-Beitrag zu starten. Wird ja auch mal Zeit! Letztendlich nahm der Beitrag das baldige Erscheinen des in Fan-Kreisen sehnlichst erwarteten „Alchemised” – die Adaption einer Fanfiction in eine eigene Geschichte – zum Anlass, die wichtigsten W-Fragen rund um Fanfiction zu beantworten. Was ist das, wer schreibt sie, wie viel davon gibt es? Was sind häufig behandelte Themen? Ein Beitrag, der Fanfiction erfrischenderweise nicht belächelt – aber letztendlich nur an der Oberfläche kratzt.

Die Rädchen in meinem Gehirn hat er jedoch angeworfen. Während ich noch dem Beitrag lauschte, blitzten vor meinem geistigen Auge zahlreiche tumblr-Posts auf, die das Thema tiefer durchdringen. (Ja, ich habe gerade die Worte „tumblr-Posts” und „tiefer durchdringen” in einem Satz verwendet! #iykyk) Und vor allem zogen meine eigenen Erfahrungen aus den letzten zwei Jahren vor meinem inneren Auge vorbei, wie Filmfetzen im Schnelldurchlauf, man kennt das, mit dem charakteristischem Flackern, stockender Rolle und dem Knistern durch blecherne Lautsprecher. Eine Erinnerung, durchfärbt von einer gewissen Nostalgie. Hach.

Doch stärker als das wohlige Gefühl über meinen ganz persönlichen Hintergrund als Fanfiction-Leserin wog die Entschlossenheit: Die „Literaturwelt” nimmt Fanfiction nun also ernst? Während das noch abzuwarten bleibt … überkommt mich das Bedürfnis, einen eigenen Beitrag zu schreiben, der über das bloße Beantworten von W-Fragen hinausgeht. Und dabei leidenschaftlich die Lanze zu brechen für ein tatsächliches Ernstnehmen von Fanfiction.

Die Einleitung war lang, der Beitrag wird noch länger. Buckle up, buttercup!

Was ist Fanfiction?

Eine Frage, die schnell beantwortet ist: Fans einer Geschichte (sei es eines Buches, eines Films, einer Serie, eines Games, eines Comics etc.), schreiben eigene Geschichten dazu. Meistens mit Charakteren aus dem Original-Werk als Hauptfiguren, oftmals in der gleichen Welt, doch manchmal auch in den Welten anderer Geschichten, in Alternativuniversen, sich nahtlos in den Kanon einfügend oder davon abweichend, alternative Enden … Es gibt nichts, was es nicht gibt.

Die heutige Fanfiction-Kultur nahm ihren Anfang in den 1960er-Jahren – und zwar mit Star Trek. Die Science-Fiction-Serie gilt als die Urmutter der Fanfictions, und es waren vor allem Frauen, die die Geschichten schrieben. Damals noch auf Papier, sei es als tatsächliche Schreibmaschinen-Seiten, die zu Fan-Treffen mitgebracht wurden, oder in extra dafür herausgegebenen Zeitschriften, den Fanzines.

Das hat sich inzwischen selbstverständlich komplett ins Internet verlagert, zuerst in die Foren der jeweiligen Fandoms, dann auf eigene Portale. Heute werden Fanfictions zum Beispiel auf Wattpad, Fanfiktion.de oder Archive of Our Own (AO3) veröffentlicht. Schaut man sich die aktuellen Zahlen an, wie sie der Beitrag von deutschlandfunkkultur zusammenfasst, dürfte es den meisten dämmern: So sehr Nische ist Fanfiction gar nicht. Nur ein spleeniges Hobby für eine Handvoll Nerds? Mitnichten! Dennoch ist sowohl das Lesen als auch das Schreiben von Fanfiction laut Kulturwissenschaftlerin Annekathrin Kohout nach wie vor mit viel Scham verbunden.

Auch tatsächliche Forschungsliteratur existiert im deutschsprachigen Raum kaum, trotz der hohen Beliebtheit von Fanfiction. „Fanfictions sind also ein literarisches Massenphänomen, für das sich die germanistische Literaturwissenschaft bislang nicht interessiert”, schlussfolgern Julian Ingelmann und Kai Matuszkiewicz in „Autorschafts- und Literaturkonzepte im digitalen Wandel” (erschienen in „Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge XXVII – 2/2017”).

Brainfucks, Vorurteile und Klischees rund um Fanfiction

Scham? Ja, das kenne ich persönlich auch ziemlich gut. Es existieren zahlreiche Vorurteile rund um die Fanfiction, die zeitweise auch als Brainfucks in meinem eigenen Kopf rotierten. Gar nicht zwingend weil ich selbst das so sah, sondern weil es mir durch eine Außenwelt gespiegelt wurde, die alles zu intensiv Nerdige reflexartig abwertete. (So glaubte ich zumindest. Ich war als Teenager unglaublich angepasst, kein bisschen rebellisch, um Unsichtbarkeit bemüht.)

Fanfiction sei nur etwas für unbeliebte Teenager, die etwas Seltsamen, die sich in fiktionale Figuren verknallen. Oder wahlweise für frustrierte, gelangweilte Hausfrauen. Fanfiction sei platt, trivial, minderwertig. Eh alles schlecht geschrieben. Eh alles nur Smut. Auf gar keinen Fall Literatur. Auf gar keinen Fall gute Literatur. Fanfiction lesen oder gar schreiben? Beides gleichermaßen peinlich. Die Liste ließe sich gleichzeitig beliebig fortführen, und sie würde sich doch nur in sich immer wiederholenden Spiralen aus Abwertung winden.

Ich selbst? Ich hatte als ungefähr Achtzehnjährige eine Zeitlang eine Brieffreundin, die keinen Hehl daraus machte, dass sie Fanfiction zu Raumschiff Voyager schrieb – vor allem mit der (ersehnten) Beziehung zwischen Captain Janeway und Commander Chakotay im Zentrum. Mein erster (bewusster) Berührungspunkt zum Phänomen „Shippen”. Mein erster Berührungspunkt zu Fanfiction. Sie schickte mir nicht nur ihre Kapitel, in dieser kurzen Brieffreundschaft traute ich mich selbst auch zum ersten Mal an eine eigene Fanfiction. Verschämt, in der Hoffnung, niemand würde es jemals herausfinden. Die ganze Geschichte schlief ziemlich schnell wieder ein – sowohl die Brieffreundschaft als auch meine halbherzigen Fanfiction-Versuche. Verlockend, ja, aber damals, vor rund zwanzig Jahren, zu weit außerhalb meiner Comfort-Zone.

Übrigens existieren auch positive Klischees rund um Fanfiction – vor allem innerhalb der Fandoms. Mein liebstes ist folgendes Phänomen, das inzwischen fast Meme-Charakter hat: Ein:e Fic-Autor:in warnt vorab, Englisch sei nicht deren Muttersprache und bittet um Verzeihung für etwaige Fehler – was häufig ein Garant dafür sei, gleich ein Meisterwerk von geradezu Shakespear’ean Größe lesen zu dürfen. If you know, you know.

Fanfiction = Literatur

Originalität als Maßstab?

Dass eine Geschichte sich am Grad ihrer Originalität messen lassen muss, ist ein vergleichsweise neues Phänomen. Für einen großen Teil der Literaturgeschichte war es üblich, bestehende Geschichten aufzugreifen und einen eigenen „Take” dazu zu erzählen. Das dürfte die so entstandenen Werke für die meisten Literaturwissenschaftler:innen noch nicht per se als Fanfiction klassifizieren – ist jedoch ein Rückblick, der sich im Zusammenhang mit so manchem reflexartigen Ablehnen von Fanfiction durchaus lohnt:

Antwort von tumblr User inkancayenne, wie hier zitiert – Originalpost nicht mehr auffindbar

Ist „Literatur” ausschließlich das, was zwischen zwei Buchdeckeln gedruckt und von einem Verlag veröffentlicht im Buchladen zu kaufen ist? Es versteht sich in diesem Beitrag von selbst, dass diese Frage meinerseits eine rhetorische war.

Gehen wir sogar noch einen Schritt weiter:

Die anthropologische Perspektive

Das Erzählen von Geschichten ist eine zutiefst menschliche Eigenschaft, eines der Charakteristika, die das Menschsein überhaupt erst ausmachen – etwas, das ich schon immer diffus gefühlt habe, noch lange bevor ich es in Worte fassen konnte. Geschichtenerzählen, das ist einer meiner größten, wichtigsten Antreiber, verwoben mit fast allem, was ich tue.

Es ist zutiefst menschlich, und es fängt lange vor Entwicklung der Schrift an. Menschen erzählen einander Geschichten, ob auf dem Feld, am sprichwörtlichen Lagerfeuer, beim gemeinsamen Essen, beim gemeinsamen Spielen von Kindern. Geschichten werden von einem Ort zum nächsten getragen, von einer Generation an die nächste weitergegeben, und so entsteht ein ganzes Netz aus ineinander verflochtenen Geschichten, die einer Kultur eigene Mythologie. Geschichten helfen, die eigene Welt begreiflich zu machen, schaffen Identität, wirken sinnstiftend.

In dieser „oral tradition” sind Geschichten kein starres Gebilde und „gehören” erst recht nicht nur einer Person. Sie entwickeln sich und wachsen, treiben immer neue, vielfältige Äste und Blüten, je nachdem, auf welchen Nährboden sie fallen. In jeder Erzählung schwingt auch die Seele der erzählenden Person mit – und in jedem Zuhören die der empfangenden Person. Geschichten sind lebendig.

Reblogs von tumblr Users kyraneko und wrangletangle – „On Fanfiction”

Eine Geschichte, die man gehört hat, weiterspinnen, aus eigener Perspektive erneut erzählen, neu erzählen. Fanfiction ist nichts anderes, heute vor allem schriftlich und im digitalen Raum – „a contemporary vehicle for this age-old practice”, so Anthropologin Kaylee Nichole Lopez-Nunez. Fanfiction demokratisiert das Geschichtenerzählen.

Oder wie es in einem bekannten Zitat ausgedrückt wird:

„Fan fiction is a way of the culture repairing the damage done in a system where contemporary myths are owned by corporations instead of by the folk.”

– Henry Jenkins (Director of media studies at MIT) in: New York Times, 1997

Die Psychologie der Fanfiction

Eine Geschichte nach dem Abspann weitererzählen, „Was wäre wenn”-Szenarien erkunden, ein alternatives Ende schreiben, Nebencharaktere ins Zentrum rücken, Beziehungen zwischen Charakteren vertiefen, wilde Crossovers zwischen verschiedenen Geschichten … Das ist die eine inhaltliche Ebene, eine Art, die Frage „Worum geht es in Fanfiction?” zu beantworten.

Doch da gibt es noch eine andere Ebene, die Frage nach den Themen. Worum geht es – aus psychologischer Perspektive?

Credit: tumbl-User cuuno_moved, zitiert hier

Ob in einem gemütlichen „Coffeeshop AU” oder einer epischen hypothetischen nächsten Serienstaffel: In Fanfiction setzen sich Schreibende wie Lesende mit Themen auseinander, die ihnen persönlich wichtig sind. Egal, ob diese Themen die Original-Geschichte prägen oder dort gar nicht auftauchen. Sehnsüchte, Traumata, tiefe, immer wiederkehrende Lebens-Themen. „Hurt/Comfort”, „Found Family”, „X Falls First, Y Falls Harder”, … Jeder Trope ist Ausdruck dessen, was einen im tiefsten Inneren bewegt.

Was einen in einer Geschichte berührt, sagt viel über einen selbst aus. Und das spiegelt Fanfiction. Das finden Schreibende wie Lesende in Fanfiction, gerne auch wieder und wieder und wieder. Feinstes Integrieren durch Aktive Imagination, frei nach C.G. Jung – und somit Verarbeiten.

Kein Wunder, dass Fanfiction so viel gibt. Dass nach ihr gegriffen wird, wenn man nachts stundenlang wachliegt.

Credit: tumblr-User clandestinegardenias

Selbst kreativ werden mit den Geschichten, die einen bewegen, also aktiv Fanfiction schreiben, vervielfacht diesen Effekt. Und wer erlebt hat, wie sehr eine neurodivergente Hyperfixierung das eigene Leben geradezu kapern kann, der weiß auch, wie gut es tut, diese Energie vom bloßen Konsumieren ins Kreieren umzulenken.

Ganz abgesehen davon, dass Fanfiction beinahe automatisch zu einem aktiven Interagieren mit einem Fandom führt (wenn es nicht ohnehin andersheum war) – und zu einem Gefühl, gesehen zu werden, Gleichgesinnte gefunden zu haben. Vollkommen in Ordnung zu sein mit der eigenen Hyperfixierung, die im neurotypischen Umfeld für Reaktionen wie Stirnrunzeln oder Augenrollen sorgt. Das kann viel der begleitenden Scham (s.o.) wieder auflösen, zumindest zeitweise.

War ich persönlich mit achtzehn noch nicht so weit, so bin ich jetzt, Ende meiner Dreißiger, so froh, diese Seite an mir inzwischen ganz selbstverständlich auszuleben.

Und wie ist das mit der Qualität?

Natürlich ist die Bandbreite riesig – in allem, was eine Fanfiction ausmacht, also natürlich auch in der „Qualität”. Das Wort wirkt hier beinahe fehl am Platz, zu geschäftsmäßig. Darum geht es doch gar nicht! Es geht darum, in einer Geschichte genau das zu finden, was man in diesem Moment braucht. Das kann manchmal Fanfiction am allerbesten.

Dennoch muss ich es einfach festhalten: Es gibt Juwelen in der Fanfiction, wow! Ungeschliffene Rohdiamanten, mit ihren scharfen Kanten von unfassbarer rauer Schönheit, und zu Hochglanz polierte literarische Schmuckstücke gleichermaßen. Zu den großartigsten Geschichten, die ich jemals gelesen habe, zählt zu einem überraschend großen Prozentsatz auch Fanfiction. Und zwar von Erzählungen in Kurzgeschichtenlänge bis hin zu epischen Werken, die in gedruckter Form wohl um die eintausend Seiten hätten.

Das im Titelbild dieses Beitrags abgebildete „Pray For Us, Icarus” habe ich mir sogar auf den E-Reader geladen. Ein Werk, das mich für immer verändert zurückgelassen hat, eine meiner eindrücklichsten Lese-Erfahrungen überhaupt.

Das Schöne ist: Ob eine Fanfiction „gut” ist oder nicht, unterliegt ganz anderen Maßstäben als traditionell veröffentlichte Geschichten. Oder kann ganz anderen Maßstäben unterliegen. Es gibt keine Regeln; schreib, was dir gefällt, was du am allerliebsten magst, worauf immer du gerade Lust hast, und es wird jemanden geben, der genau das lesen möchte.

Man kann zum Beispiel jedes „Muss” und „Sollte” für den Aufbau einer Geschichte getrost über Bord werfen. 10 Kapitel nur Fluff, aber ohne einen tragenden Plot, ohne Antagonist, ohne Prämisse, Spannungsbogen, all das (wunderbare!) Handwerkszeug? Das kann in Fanfiction unwiderstehlich GUT sein.

Und der berüchtigte „shameless smut”? Auch hier: Alles geht, nichts muss. Alles darf. Alles kann unfassbar großartig sein. Eingebettet in einen epischen Plot oder für sich stehend, alles hat seine Daseinsberechtigung. Würde ich eine Sammlung der schönsten Sätze und Formulierungen zeigen, die ich jemals in Fanfiction gefunden habe, wären da nicht gerade wenige dabei, die aus Geschichten mit dem Tag #pwp stammen …

Warum funktioniert das eigentlich so gut?

Die Antwort ist eigentlich relativ simpel, weil naheliegend: Den Lesenden sind mindestens die Charaktere bereits vertraut, oftmals auch die Welt der Geschichte (#AUs, also „Alternative Universes”, ausgenommen). Vertraut und geliebt. Sie bedeuten den Lesenden bereits etwas, die Geschichte braucht also nicht einen großen Teil ihres Raums dafür, dass die Charaktere einem überhaupt wichtig werden. In Fanfiction ist keine Exposition nötig, man kann direkt eintauchen – in was auch immer man gerade möchte.

Aber das Urheberrecht? Dürfen die das?

Es ließe sich mit einem Satz zusammenfassen: Wenn eine Fanfiction ausschließlich für den privaten Gebrauch ist und ohne kommerzielle Absicht geteilt wird, ist das unproblematisch. Die Urheberrechtsreform von 2021 hat für einen Aufschrei in der deutschen Fanfiction-Community geführt – doch ein „Pastiche”, unter den Fanfiction hier fällt, ist dort ausdrücklich erlaubt

Was das Veröffentlichen von Fanfiction betrifft, wie sich zum Beispiel entsprechende Plattformen finanzieren, unter welcher Rechtsform … Es ist komplex. Ich bin keine Anwältin und darf und möchte hier keine Rechtsberatung geben. Noch möchte ich überhaupt so weit in die Tiefe gehen in diesem Punkt. Fakt ist: Fanfiction wird geschrieben, auf entsprechenden Plattformen veröffentlicht und millionenfach gelesen und geteilt. Fakt ist auch: Die Charaktere, Welten und Handlungselemente, derer sich Fanfiction bedient, „gehören” nicht den Schreibenden. Geduldet wird die Fanfiction jedoch zu großen Teilen.

Ein bloßes Nacherzählen bestehender Handlung ist übrigens noch keine Fanfiction, eine gewisse „Schöpfungshöhe”, also der Grad der kreativen Eigenleistung, muss vorhanden sein. 

Alchemised – wenn Fanfiction im Mainstream ankommt

Wie in der Einleitung bereits erwähnt: Auslöser für den Artikel von deutschlandfunkkultur und somit auch für diesen Blogbeitrag war das baldige Erscheinen der epischen Fantasy „Alchemised” von Autor:in SenLinYu (auf Deutsch bei Ullstein im Imprint Forever) als hochwertiges Hardcover, natürlich in der ersten Auflage mit Farbschnitt.

Die Geschichte beruht auf einer der beliebtesten Fanfictions aus dem Harry-Potter-Universum und wurde für die Verlagsveröffentlichung entsprechend adaptiert: Handlungsstränge sowie Namen von Charakteren und Schauplätzen so abgeändert, dass das zugrundeliegende Original-Werk (rechtlich gesehen) nicht mehr erkennbar ist.

Das ist keine kleine Nischen-Veröffentlichung. „Manacled”, die zugrundeliegende Fanfiction, wurde millionenfach gelesen, gilt als Fandom-Klassiker und hat längst so etwas wie ein eigenes Sub-Fandom. Wer sich dementsprechend auf „Alchemised” freut, macht keinen Hehl daraus, ganz im Gegenteil. Das ist nichts, was hinter vorgehaltener Hand zögerlich gestanden wird. „Alchemised” ist ein Hype, „Alchemised” wird groß. Möglicherweise wird das Buch, wenn es hält, was der Hype verspricht, dem Ruf der Fanfiction neuen Aufschwung geben. 

Sie zumindest näher ins Zentrum der öffentlichen Diskussion rücken, sie in „der Literaturwelt” sichtbarer machen. Ich glaube, gänzlich aus dem Schatten der Fanfiction zu treten, wird „Alchemised” nie gelingen. Es wird „die Adaption dieser einen beliebten Fanfiction” bleiben – und das Feuilleton blickt sowieso auf Phantastik, die auf Social Media gehyped wird, herab.

Neu ist das übrigens nicht. Wir erinnern uns an „50 Shades of Grey”, dem heute noch anhaftet: „Das war übrigens ursprünglich mal Twilight-Fanfiction.” Gleicher Veröffentlichungsweg – aber die Sache mit der Qualität …? Uff. Lassen wir das. Darüber wurde schon zur Genüge geschrieben.

Ich persönlich hoffe es jedenfalls, dass „Alchemised” eine andere Abzweigung nimmt, eine andere Rezeption erfahren wird. Dass Fanfiction tatsächlich mehr und mehr „ernstgenommen” wird. Dass es mehr und mehr Leute geben wird, die wie Michael Sheen in diesem Clip mit fester, gelassener Überzeugung Fanfiction wertschätzen für alles, was sie ist. (Auch für die Dinge, die alle in jener Runde zum Kichern bringen.)

Selber Fanfiction schreiben?

Allen, die mit dem Gedanken spielen, sich einmal selbst am Schreiben von Fanfiction zu versuchen, kann ich nur sagen: Just go for it! Im Ernst, es gibt nichts zu verlieren – man kann nur gewinnen.

Und allen, die auf entsprechenden Plattformen gerne Fanfiction lesen, sei die dazugehörige Netiquette ans Herz gelegt. Ich persönlich kenne mich nur auf AO3 wirklich aus, aber ich schätze einmal, das gilt über alle Fandoms und Plattformen hinweg: 

  • Fanfiction dient vor allem der Freude! Negativität ist fehl am Platz.
  • Reaktionen sollten ausschließlich wertschätzend sein. Was nicht gefällt, darf kommentarlos weggeklickt werden.
  • Was gefallen hat: Hinterlasse mindestens „Kudos” (das AO3-Äquivalent zu „Likes”), wenn nicht gar einen Kommentar. 
  • Kritik ist nicht erwünscht, auch keine konstruktive – außer es wird ausdrücklich darum gebeten. 
  • Und, daran muss in der heutigen Zeit mehr denn je erinnert werden: AO3 hat keinen Algorithmus, der Interaktion mit Reichweite und Sichtbarkeit belohnt und Home-Feeds automatisch kuratiert, sondern es ist ein reines Archiv. Tagge Geschichten, die du geschrieben hast, sorgfältig und nutze als Leser:in die Filterfunktionen der Suche voll aus.

Ausführlicher bei tumblr-User paganinpurple

Interlude: Lily, und was ist mit dir?

Von diesem einen Fall abgesehen, bleibt es letztendlich nur ein Gedankenspiel. Denn Fanfiction ist überhaupt nicht für diejenigen, die das Original erschaffen haben (in diesem Fall: ich als Autorin des Buches). Es würde mich schlicht nichts angehen. (Bitte! Schickt den Autor:innen eurer Lieblingsbücher niemals ungefragt eure Fanfic-Links!)

Nachdenkliche Conclusio

Kommen wir zurück von diesem kleinen Exkurs. Dieser Artikel war eigentlich schon fertig, der vorangegangene Exkurs könnte auch ein abschließendes Fazit sein. Aber irgendetwas hielt mich davon ab, auf „Veröffentlichen” zu klicken. Und beim Geschirrspülen vor zwei Tagen dämmerte mir, was das war. 

Es war der seltsame Beigeschmack, den die Worte „Die Literaturwelt nimmt Fanfiction so langsam ernst” auf meiner Zunge hinterließen. Der Kontext dieser Worte. Eine Fanfiction, die für millionenfache Begeisterung in ihrem respektiven Fandom sorgte, wird jetzt also als „original fiction” veröffentlicht, als „richtiges” Buch, mit Charakteren und einer Geschichte, die von ihrer Fandom-Vorlage zu etwas Eigenständigem weitentwickelt wurden. So weit, so erfreulich. Fast bin ich versucht, ein „oder?” hinterherzuschieben.

Natürlich ist das ein großartiger Erfolg für Autor:in SenLinYu. Ein Ritterschlag, um bei meinen eigenen Worten zu bleiben. Ich freue mich aufrichtig für them. Und für all die Fans, die dem Buch entgegenfiebern, denn das ist ein großartiges Gefühl, sich so sehr auf eine Geschichte zu freuen.

Nimmt „die Literaturwelt” Fanfiction also wegen der Qualität der Geschichte nun ernst, weil SenLinYu so bestechend gut schreibt, dass alle Vorurteile verpuffen? Oder doch eher aufgrund dieses Erfolges? Dass they den Sprung zur „richtigen” Veröffentlichung „geschafft” hat? Und was ist eigentlich mit der zugrundeliegenden Fanfiction „Manacled”? Die brachte SenLinYu (bis zum Verlagsvertrag) kein Geld ein. Nur die Begeisterung von Millionen (!) von Menschen. War das nicht in sich bereits Erfolg?

Das jetzt, das ist kommerzieller Erfolg. Nicht nur wird das Buch auf Social Media von Lesenden vorab gehyped – dieser Hype wird gezielt angefacht durch die veröffentlichenden Verlage. Weltweit koordiniertes Erscheinungsdatum, groß angelegte Vertriebskampagnen seitens der Verlage für Buchhandlungen, Mitternachtsverkäufe, Sondereditionen, Exklusivrechte, Lesereise. Und erst vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass die Filmrechte an „Alchemised” für mehrere Millionen gesichert wurden.

Nicht falsch verstehen – ich meine das nicht abwertend. Es ist eine Beobachtung, nicht zuletzt aus meinem Berufsleben. Kommerziellen Erfolg mit einem Buch haben, mit den selbstgeschriebenen Geschichten Geld verdienen, davon leben können (gar reich werden?!) – im Kapitalismus das ultimative Ziel, und gleichzeitig die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen. Dieser Erfolg sei SenLinYu von Herzen gegönnt!

Doch es hat etwas Gönnerhaftes, wenn Artikel geschrieben und reichweitenstark geteilt werden, dass „die Literaturwelt” Fanfiction nun ernst nehme – weil eben jetzt (wieder) Geld damit gemacht wird. „Alchemised” wird sich beweisen müssen, wird ganz anders auf seine Qualität hin beurteilt werden als vergleichbare Bücher ohne Fanfiction-Hintergrund. Und diese Beurteilung wird mitentscheiden, wie „ernst” die „Literaturwelt” Fanfiction tatsächlich nimmt. 

Dass erst kommerzieller Erfolg der zündende Funke dafür ist, ist gleichzeitig schade und kaum überraschend. Die Begeisterung von Millionen Lesenden, die Liebe zu einer Geschichte, die Lust am Erzählen und Weitererzählen ist im Kapitalismus erst dann „ernstzunehmen”, wenn sie Geld einbringt.

Dass ihr für sich stehend schon immenser Wert innewohnt? Kaum der Rede wert. Zumindest nicht für den Teil der „Literaturwelt”, der sich selbst die Deutungshoheit darüber zuspricht.

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