„Gothic” – also diese Leute, die gerne auf Friedhöfen spazieren gehen und ausschließlich Schwarz tragen (oder einmal im Jahr zu Pfingsten nach Leipzig aufs Wave Gotik Treffen pilgern)? Nicht ganz, denn hier schauen wir uns nicht die Subkultur an, sondern das literarische Genre – auch wenn Gothic Fiction gerade auch in der Schwarzen Szene natürlich gerne gelesen wird.
Andersherum wird natürlich ebenfalls ein Schuh draus: Du musst dich gar nicht mit der Schwarzen Szene auskennen oder gar identifizieren, um Literatur zu lesen, die der „Gothic Fiction” zugeordnet wird. Vermutlich hast du einige Beispiele des Genres längst selbst im Bücherregal stehen.
Was bedeutet eigentlich Gothic?
Gothic Novel, Gothic Fantasy, Urban Gothic? „Novel” = Novelle? Ein Begriffs-Wirrwarr, auf den ersten Blick wahrscheinlich so undurchdringlich wie ein düsterer Wald. Fehlt nur noch das Krächzen der Krähen am wolkenverhangenen Himmel.
Das Adjektiv „gothic” bedeutet – in dieser Verwendung – tatsächlich „mittelalterlich”. Auch wenn das in Sachen Literatur eher irreführend ist, denn es handelt sich explizit nicht um mittelalterlich angehauchte High Fantasy.
Einen deutschen Begriff für das Literatur-Genre, das wir uns hier anschauen möchten, gibt es tatsächlich: Schauerliteratur. „Schauer” nicht wie ein kurzer, heftiger Regenguss, sondern wie die Gänsehaut, die uns eiskalt den Rücken hinunterläuft. Es darf sich (wohlig) gegruselt werden in der Gothic Fiction.
Eine „Gothic Novel” ist also ein Schauerroman (und keine bzw. nicht zwingend eine Novelle, das wäre nochmal etwas anderes (und nein, eine Novelle ist nicht einfach nur ein besonders kurzer Roman)). Doch die Begriffe Gothic Fiction, Gothic Literatur oder auch Modern Gothic schwirren ebenfalls durch die vor allem zeitgenössische Phantastik.
Welche Elemente beinhaltet Gothic Fiction?
“Dieses Genre lebt von der düsteren Umgebung, in der die Handlung angesiedelt ist. Dunkelheit, dunkle Kleidung, düstere Landschaften, Nebel, Höhlen oder Gewölbe und unerklärliche Ereignisse sind vorherrschend, auch wenn der Roman/die Geschichte in der heutigen Zeit spielt. Die Protagonisten (normalerweise männlich) sind in sich zerrissene Charaktere (frei nach dem Motto, dass „zwei Seelen in ihrer Brust wohnen“), die deshalb sowohl Gutes wie auch Böses in sich tragen und allzu häufig das Böse wählen.” – So fasst es Mara Laue in ihrer Genre-Liste treffend zusammen.
Es sind also vor allem die inhaltlichen Elemente, die Gothic Fiction ausmachen:
- Schauplätze: Verlassene Gebäude, Friedhöfe, Wälder, Burgen & Schlösser, Dörfer
- Übernatürliches: Spuk, Geister, Vampire, unerklärliche Phänomene, Flüche, düstere Omen
- Stimmung: unheimlich, geheimnisvoll, dräuend, bedrohlich, gruselig, melancholisch, schwermütig
- Themen: Familiengeheimnisse, Tod, Verfall, Wahnsinn, (zerstörerische) Liebe
- Begleitende Elemente, die den Charakter des Genres unterstreichen: heulender Wind, Nebel, Verfall, Gewitter, ungeheimliche Sichtungen/Geräusche, dunkle Kleidung
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Ein paar Klassiker aus der Gothic Fiction
Im Kanon der Weltliteratur finden sich zahlreiche Titel, die sich der Schauerliteratur oder auch Gothic Fiction zuordnen lassen. Wie viele davon wären dir eingefallen? (Und welche muss ich unbedingt noch lesen? → Hinterlasse mir sehr gerne einen Kommentar.)
- Oscar Wilde: The Picture of Dorian Gray (Das Bildnis des Dorian Gray)
- Mary Shelley: Frankenstein, or The Modern Prometheus
- Charlotte Brontë: Wuthering Heights (Sturmhöhe)
- Robert Louis Stevenson: Strange Case of Dr Jekyll and Mr Hyde (Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde)
- Edgar Allan Poe: Der Untergang des Hauses Usher, Das Verräterische Herz, Der Rabe …
- E.T.A. Hoffmann: Die Elixiere des Teufels; Der Sandmann
- Bram Stoker: Dracula
- Sheridan Le Fanu: Carmilla
Aktuelle Titel aus der Gothic Fiction
„Gothic Fiction” ist kein starr festgelegtes Genre. Vor allem in zeitgenössischer Literatur sind die Übergänge zu anderen Genres oftmals fließend – oder das Buch wird gänzlich woanders einsortiert und „Gothic” bezeichnet lediglich die Ästhetik. (So ist es wenig verwunderlich, dass eine ähnliche Ästhetik auch in Horror, Urban Fantasy oder der neu aufgekommenen Dark Academia zu finden ist.)
Hier ein paar Bücher, die ich der Gothic Fiction zuordnen würde (Liste bei Weitem nicht abschließend, nur aus dem Bauch heraus schnell heruntergeschrieben – auch hier freue ich mich auf Buchtipps in den Kommentaren):
- V.E. Schwab: Gallant
- Silvia Moreno-García: Mexican Gothic
- Laura Purcell: Die stillen Gefährten
- T. Kingfisher: What Moves The Dead
- Selina Schuster: Absinthe
Und der Novemberkönig?
Noch im Schreibprozess war mir anfangs selbst gar nicht so klar, was ich da eigentlich schreibe (mein Herantasten an mein eigenes Genre habe ich damals hier zusammengefasst). Heute sage ich hingegen selbstbewusst: Ja, der Novemberkönig ist definitiv Gothic Fiction!
Am liebsten bezeichne ich meinen ~600-Seiten-Klopper als Gothic Novel. Wahlweise auch als „Urban Fantasy in der Tradition klassischer Schauerromane” (mit seinem komplexen Magiesystem und weiteren Elementen ist „Urban Fantasy” als Genre-Bezeichnung für den Novemberkönig nämlich auch nicht ganz verkehrt).
- Es gibt die (möglicherweise) verlassene, verfallene Villa im düsteren Wald, außerdem ein Dorf mit zutiefst verschlossenen Bewohner:innen, die stur ein Geheimnis hüten.
- Es gibt unheimliche Begegnungen, Erzählungen von geisterhaften Heimsuchungen, sogar eine meiner Protagonistin im Pub erzählte Geistergeschichte.
- Es gibt den byronischen Antihelden, komplett mit langem schwarzem Mantel, Zylinder und Gehstock.
- Es gibt untote Singvögel, geisterhafte Cembalo-Klänge, eine Bibliothek mit verbotenem Stockwerk, kaputte Uhren und mit Tüchern verhangene Gemälde, einen kurzen Ausflug ins Viktorianische, einen kurzen Ausflug nach Prag als Schauplatz …
- Es gilt eine tragische Backstory zu entschlüsseln – gar einen Fluch zu brechen.
- In Stimmung und Atmosphäre geben der Wald und der allgegenwärtige Novembernebel den Ton an – Melancholie und Schwermut prägen die langsam erzählte Geschichte.
- Eine ordentliche Portion Wahn darf auch nicht fehlen – und ob alle Figuren die Dinge genau so darstellen, wie sie tatsächlich sind? Finde es zusammen mit meiner Protagonistin Ylva heraus …
Neugierig geworden auf den Novemberkönig?

Und was kommt danach?
Aktuell schreibe ich parallel gleich an zwei längeren Roman-Projekten – und eines davon ist ein ganz klassischer Schauerroman. Kein Herantasten, kein Vielleicht, keine Überschneidungen mit Urban Fantasy. Dieses Projekt ist ganz bewusst als (kürzere) Gothic Novel konzipiert – und im Gegensatz zum zweiten Projekt außerdem bereits komplett durchgeplottet.
Da sich Romane ja doch länger Zeit lassen, bis sie mit der Welt geteilt werden können: Meine Kurzgeschichte „Nocturne in f-Moll” in der Anthologie „Cocktail Macabre: Trink- und Kinkgeschichten” (herausgegeben von Jessica Iser und mir) ist ebenfalls ganz klar Gothic Fiction. Die ganze Anthologie ist es – und neben meiner melancholisch-leisen Geschichte zeigen die anderen Autor:innen darin eine wundervolle Bandbreite des Genres, einmal quer durch Erotik und Rausch und Wahn.
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