Auf einen Kaffee mit meinem 20-jährigen Ich

Ich habe mein Zwanzigjähriges Ich auf einen Kaffee eingeladen. So fängt ein Posting-Trend an, der Anfang des Jahres durch Social Media ging. Bewusst getroffen habe ich sie nicht, in meinem Fall stand sie auf einmal einfach bei mir in der Küche, als ich gerade Apfel-Pancakes machte, und sie hatte Musik von damals dabei. (Ich mache eine Andeutung zu Berthold Brechts „Vergnügungen”, alte Musik, neue Musik, und ihre Augen leuchten auf. Sie entspannt sich, sie erkennt mich.)

Eigentlich wäre zwei Tage vorher auch eine schöne Gelegenheit dafür gewesen – aber sie hat verinnerlicht, auf keinen Fall im Mittelpunkt stehen zu wollen, nicht einmal am eigenen Geburtstag.

Ich erzähle ihr, dass wir tanzen. Als würde niemand zusehen, aber auch und erst recht, wenn jemand zusieht. Dass wir uns so bewegen, wie sie es sich noch nie getraut hat, außer vor dem eigenen Schatten an der Wand. Dass wir uns kaum je so lebendig fühlen wie wenn wir auf einer Bühne stehen.

Ich erzähle, dass wir inzwischen auch dann singen, wenn es jemand hören kann.
(Das nicht auf Bühnen – sie ist erleichtert.) Vom Achterbahnfahren erzähle ich ihr auch.

Sie fragt sich, warum ich davon zuerst spreche – und nicht von den Formen der Kreativität, die ihr so wichtig sind. Schreiben. Zeichnen. Malen.

Mich fragt sie das nicht, mich fragt sie nach unserem Beruf. Zögerlich, mit nicht wenig Angst in der Stimme. Ich weiß, was alles vor ihr liegt, so viele Tränen, aber auch mehr als ein Jahrzehnt des Suchens, Grabens, Jagens. Verlorensein, Anstrengung, Beharrlichkeit. Es gibt vieles, was ich ihr zu diesem Thema gerne raten würde, doch ich weiß, dass sie nicht darauf hören würde, nicht einmal auf mich.

Ich schenke ihr stattdessen ein offenes Lächeln. „Die Bücher-Berufe, die du so gerne machen wolltest – wir probieren sie alle aus! Autorin, Lektorin, Buchhändlerin, du wirst das alles machen!” Ich würde ihr gerne den Novemberkönig zeigen, aber ich weiß, dass er von selbst zu ihr kommen wird. Ein wenig beneide ich sie, würde diese tiefe Inspiration gerne selbst noch einmal zum ersten Mal erleben. (Nicht mehr lange, dann wird ein Künstler mit Dreispitz (und Zylinder) auf dem Kopf genau diese Saite in ihrer Seele anschlagen, auf derselben Frequenz schwingen.) Unsere Lieblingsbücher noch einmal zum ersten Mal lesen.

Ich spüre so viel Wärme für sie, wenn ich sie so vor mir sitzen sehe, irgendwo zwischen ausbrechen und sich an sich selbst herantasten. Sie weiß noch nicht, was in ihr steckt.

Sie versucht, den Mut zusammenzunehmen für eine letzte Frage, doch sie findet ihn nicht, noch nicht. Ich weiß, was sie sich nicht zu fragen traut. Ich hoffe, sie sieht es mir nicht an, und versuche so viel von dieser Wärme wie möglich in meinen Blick zu legen.

Nachdem sie fort ist, sitze ich noch lange vor unseren ausgetrunkenen Kaffeetassen. Ich lausche, bin mir unschlüssig, ob ich darauf hoffen soll, dass gleich mein Fünfzigjähriges Ich wiederum mich auf einen Kaffee einlädt.

Im Stillen verabrede ich mich mit ihr auf Apfel-Pancakes mit Kompott.

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3 Antworten zu „Auf einen Kaffee mit meinem 20-jährigen Ich“