Was ist eigentlich Phantastik? Nur ein fancy Wort für „Fantasy”, das ein wenig gehobener klingen möchte?
Manche Definitionen verwenden die „Phantastik” und „Fantasy” tatsächlich weitestgehend synonym – doch ich persönlich wende für mich eine andere Deutung des Phantastik-Begriffs an: die Phantastik als Überbegriff. Als „Umbrella Term”, der Fantasy, Science Fiction und Horror unter sich vereint, aber auch zum Beispiel Märchen, Sagen, mythologische Erzählungen etc. Eben Geschichten, welche die die Grenzen der uns bekannten „echten” Welt erweitern oder gar sprengen.
Warum mein Herz für die Phantastik schlägt? Hier ist eine Liebeserklärung in sieben funklenden Punkten (gib acht, die Sieben gilt als magische Zahl, nicht nur in zahlreichen Geschichten …):
1. Phantastik ist das älteste Genre
Seit Menschen die Sprache erfunden haben, erzählen sie einander Geschichten. Immer schon, überall auf der Welt, in allen Kulturen, in allen Familien. Es ist etwas, das uns alle verbindet.
Und diese Geschichten waren schon immer zum großen Teil eins: phantastisch. Man stelle sich vor, wie unsere Vorfahren um ein Lagerfeuer saßen und durch Geschichten versucht haben, sich ihre eigene Welt begreifbar zu machen. Was steckt dahinter, wenn es am Himmel grell aufblitzt, gefolgt von lautem Donnerkrachen – und warum kann das auch eine zerstörerische Kraft entfalten? Die Antwort darauf dürfte so manches Mal in eine Form gegossen worden sein, die in ihrem Kern eine phantastische Geschichte darstellt.
(Damals wie heute noch. Eigentlich wollte ich in diesem Absatz jetzt zu den Mythen der alten Griechen weiterleiten, zu biblischen Texten und shakespeare’schen Theaterstücken – aber ich muss gerade einfach nur an meine Oma denken, die bei Gewitter immer sagte, als meine Schwester und ich noch ganz klein waren: „Das ist der liebe Gott, der mit seinen Engeln Kegeln spielt.” Und bei einem besonders lauten Donner: „Juhuu, das waren alle neune!” Und schon hatten wir Kinder keine Angst mehr vor dem Gewitter. Die ursprünglichste Art des Geschichtenerzählens: durch Phantastik die Welt begreifbar machen.)
2. „Was wäre, wenn …”
Ein kleiner Frage-Einstieg als einer der größten Antreiber der Menschheit – für neue Ideen, für Innovation, für spannende Geschichten. Was wäre, wenn Kutschen sich von alleine bewegen könnten, ganz ohne Pferde? Was wäre, wenn der Dampf-Antrieb die vorherrschende Technik der Zukunft geworden wäre? Was wäre, wenn du plötzlich in einen immerwährenden November stolperst? Was wäre, wenn ein Geist Klavier spielen könnte? Was wäre, wenn zwei zirkusaffine Frauen einen Funken-Schwarm in einem Käfig halten?
Keine Frage ist zu wild, zu weit weg von der Realität, um ihr nicht in einem phantastischen Szenario auf den Grund zu gehen. Ob beim eigenen Schreiben oder einfach für dich selbst als Leser:in: Mit der Phantastik schickst du deinen Geist auf Reisen.
3. Dem Alltag entfliehen, in andere Welten eintauchen
Wenn man Phantastik-Fans fragt, was sie an diesem Genre(-Überbegriff) lieben, dann ist das wohl die am häufigsten genannte Antwort. Einfach mal abtauchen, dem Alltag entfliehen, die eigenen Sorgen eine Weile vergessen, in fremde Welten eintauchen. Eskapismus at it’s finest – und das meine ich ausschließlich liebevoll!
„Eskapismus” wird von vielen Menschen erst einmal belächelt (I see you, Vertreter:innen der sogenannten „ernsten Literatur”!). Der Wunsch, durch Lesen dem Alltag zu entfliehen, sei naiv, weltfremd, kindisch, was auch immer. Dabei finde ich, daran ist gar nichts auszusetzen. Das Leben ist hart, immer wieder, für jede:n von uns. Auf ganz unterschiedliche Arten, nicht immer gleich schlimm. Aber manchmal möchte man einfach auf einen „Pause”-Knopf drücken. Einmal kurz aussteigen, sich mit anderen Dingen auseinandersetzen. Um dem eigenen Alltag hinterher gestärkt wieder entgegentreten zu können, mit aufgeladenen Akkus. Eskapismus zum Seele-Auftanken.
Und ist Lesen nicht eine der schönsten, wundersamsten Formen des Eskapismus? Wir lassen unseren Blick über dunkle Symbole wandern, die auf verarbeitetes Holz aufgebracht sind – und doch erleben wir in unserem Kopf etwas ganz anderes, als nur die Buchstaben zu sehen. Brechen mit Gandalf und Bilbo auf in ein Abenteuer, reiten mit Bastian auf dem Rücken eines Glücksdrachen, empfinden Freude, Angst, Schmerz, Trauer, Euphorie, wirken mächtige Magie, verlieben uns und hoffen auf ein glückliches Ende. Alles vom eigenen Lesesessel aus.
Lesen ist an sich bereits eine Form der Magie, wie ich finde – und die Phantastik vervielfacht das!
4. Ein Brennglas für die Realität
Was mich gleich zum nächsten Punkt bringt – und dieser könnte sich auch zusammenfassen lassen mit: das Gegenteil von bloßem Eskapismus.
Die Phantastik kann auch anders: Sie kann Themen ansprechen, sichtbar machen, durchdringen, vom Persönlichen bis zum Politischem. Mithilfe des Mittels der Fiktion setzt sie sich mit wichtigen Themen auseinander, mit großen Fragen: Was ist Macht, wie ist sie verteilt, in wessen Händen ist sie gut aufgehoben, in wessen Händen richtet sie Schaden an? Wie wollen wir leben, als Gesellschaft, als Spezies, heute, in der Zukunft? Wie gestalten wir Zusammenleben, in der Familie, in einer Nation, global? Wer gehört dazu, wer wird ausgegrenzt – und ist das gerecht? Wie verteilen wir Ressourcen? Wie gehen wir mit unseren persönlichen Ressourcen um, wenn das Außen uns (zu) viel abverlangt? Was macht ein traumatisches Ereignis mit uns? Welche Entscheidungen treffen wir, wenn das auf dem Spiel steht, was uns am wichtigsten ist? Wie gehen wir damit um, wenn unsere Welt nicht mehr das ist, was sie zu sein scheint? …
Das Spektrum der Fragen, denen sich die Phantastik widmen kann, ist unendlich groß, und es existieren so viele Antwortmöglichkeiten auf diese Fragen wie Menschen, die sie stellen, von hoffnungsvoll bis schonungslos.
Die Phantastik kann also ein Brennglas sein für die Realität, als Spiegel von Themen, die dich persönlich beschäftigen, die die Gesellschaft beschäftigen … Nicht naiv, sondern mutig. Nicht weltfremd, sondern lebensklug. Nicht vermeidend, sondern bewusst hinschauend.
Und sie kann beides sein. Gleichzeitig. Oder mal das eine, mal das andere, in jeweils unterschiedlichen Geschichten – oder gar in ein und derselben Geschichte. „Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt”, besagt ein arabisches Sprichwort. Und ein Garten ist und gibt und braucht auch nicht jeden Tag das Gleiche – warum sollte es dir beim Lesen also anders gehen?
Interlude: meine liebsten Werke der Phantastik
Bücher: Erin Morgenstern: The Night Circus; Peter S. Beagle: The Last Unicorn; Amal El-Mohtar und Max Gladstone: This Is How You Lose The Time War; V. E. Schwab: The Invisible Life of Addie LaRue; Asp Spreng: Der Fluch; Erin Morgenstern: The Starless Sea; Laini Taylor: Strange The Dreamer
Filme: Der Herr der Ringe (I–III); Only Lovers Left Alive; Das Letzte Einhorn
Serien: Star Trek (Next Generation und Voyager); Arcane; Good Omens
Musik*: ASP (alles!); Long Distance Calling (in diesem Zusammenhang vor allem die beiden Alben „How Do We Want To Live?” und „Ghost”); Faun
5. Bedeutung und Sinn finden in der Phantastik
Unabhängig davon, ob eine Geschichte der Phantastik nun eine Antwort auf eine große, existenzielle Frage liefert oder nicht – auch auf einer ganz individuellen, nicht greifbaren Ebene können wir Bedeutung und Sinn finden im Phantastischen. Und dadurch Kraft tanken für das eigene Leben, den Alltag, die großen und kleinen Sorgen, Antworten finden auf die großen und kleinen Fragen.
Nicht immer können wir diesen Sinn so genau in eigene Worte fassen. Oder eine Metapher für das eigene Leben übersetzen. Nicht immer wollen wir eine Geschichte als Allegorie verstehen. Manchmal geht es einzig allein um den Moment, wenn du ein gutes Buch nach der letzten Seite zuschlägst und fühlst: Etwas hat sich verändert. Du hast dich verändert. Es ist schwer greifbar, noch viel schwerer in Worte(n) fass-bar, aber umso tiefer fühlbar. Das Gefühl, ein Stück der eigenen Seele in einem Buch zurückgelassen zu haben. Als habe beim Lesen ein Prozess der Transformation stattgefunden, der dich verändert zurücklässt.
Und manche Bücher lassen uns überhaupt erst verstehen, wer wir sind. Wenn auch nur für einen kurzen Moment.
6. Die pure Freude am Spielen
Noch so ein tiefes menschliches Bedürfnis. Spiel. Wer niemals spielt, dem fehlt etwas Wichtiges im Leben.
Und so gilt dieser Punkt meiner Liebeserklärung an die Phantastik sowohl fürs Lesen als auch fürs Schreiben: Die Phantastik bietet eine Fülle an Möglichkeiten, zu spielen. Sich einfach nur auszutoben. Mit purer Freude. Mit Was-wäre-wenns. Mit den wildesten Szenarien, schamlos self-indulgent. Durch alle hier genannten Punkte mäandernd und wieder zurück.
Manchmal IST Freude the whole fucking point.
7. Den Blick für die Magie im eigenen Leben schärfen
Mit einer phantastischen Geschichte dem eigenen Alltag entfliehen, schön und gut. Die Phantastik in ihrer Definition als „außerhalb unserer Realität”, fein. Aber macht das im Gegenzug die Realität, den eigenen Alltag, das sogenannte echte Leben automatisch grau? Kehren wir nach einer Runde Eskapismus einfach wieder zurück, in einen Alltag ohne Fantasie?
Oder schärft das Erleben einer phantastischen Geschichte nicht sogar unseren Blick für das Magische, das Besondere, das Schöne? Wir brauchen keine Zaubersprüche, um Magie zu erkennen. Wir brauchen kein Portal, nach dessen Durchschreiten die Welt farbenfroher und wundersamer wird. Wer sich in der Phantastik bewegt, der findet Magie auch im eigenen Leben, in kleinen Momenten, die sonst unbemerkt blieben.
Und allein dafür kehre ich immer wieder gerne zur Phantastik zurück.
(In Wahrheit war ich nie weg.)
Phantastische Novembernebelmelancholie:
Ergreife die lederbehandschuhte Hand, die sich dir entgegenstreckt, pflücke Irrlichter aus einer Vollmond-Nacht und nimm einen tiefen Schluck Magisches Feuer mit dieser düsterromantischen Gothic Novel. Doch egal, was du tust: Halte dich von Foremar Manor fern …

*Warum auch Musik? Long Distance Calling ist Postrock, Faun macht Pagan Folk – was macht der Punkt „Musik” also in einem Blogbeitrag über ein literarisches Genre?
Die selbstgewählte Genre-Bezeichnung von ASP bringt uns auf die richtige Spur: „Gothic Novel Rock” – nicht etwa „Gothic Rock”, sondern Rockmusik, die Gothic Novels, also Schauergeschichten erzählt.
Und so wird dann auch für LDC und Faun ein Schuh draus: Es geht mir hier nicht um das musikalische Genre der Bands, sondern um den Inhalt der Songs – und da werden ganz viele Geschichten erzählt. Phantastische Geschichten. Long Distance Calling kommt dafür sogar (fast) ganz ohne Text aus …
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