Hallo, das bin ich! Oder: ein viel zu langer erster Beitrag.
Es passierte an einem unspektakulären Abend im örtlichen Einkaufszentrum, gänzlich unerwartet. Ich war unterwegs, um noch schnell einige Besorgungen zu erledigen, und freute mich schon auf Couch und Buch daheim. Menschen liefen unbeachtet an mir vorbei, das übliche Potpourri an anonymen Gesichtern, nicht mehr als das tägliche Setting der eigenen Geschichte.
Plötzlich leuchtete eines der Gesichter aus der Masse heraus. Ein kurzes Aufblitzen von Erinnerungen. Es war eine Frau, die mir entgegenkam, vielleicht Ende vierzig, Anfang fünfzig, schulterlange dunkelbraune Haare, roter Lippenstift. Vielleicht trug sie ein förstergrünes Tweedjackett, vielleicht bilde ich es mir auch nur im Nachhinein ein, weil sie solche Kleidung früher oft getragen hatte. Ich war mir nicht sicher – war sie es? Die Deutschlehrerin, die mich in der Schulzeit am meisten von allen geprägt hatte? Die in meiner neunten Klasse neu an die Schule kam und sich bei den Schülern sofort entweder beliebt und unbeliebt machte: Sie verlangte nahezu als Erstes von uns, dass wir uns alle die „Herr der Ringe“-Trilogie zu Weihnachten wünschen und über die Ferien lesen sollten, für ein Projekt der Stiftung Lesen. (Diese Geschichte verdient einen eigenen Beitrag!) Und sie war ein glühender Harry-Potter-Fan. Von diesem Jahr an begleitete sie mich im Fach Deutsch bis zum Abitur; sie förderte und forderte meine Schreib-Leidenschaft; ihr Unterricht machte Spaß; sie war einfach großartig!
Und jetzt war sie, fast zehn Jahre nach dem Abitur, in diesem Einkaufszentrum im Begriff, innerhalb von Sekunden an mir vorbeizulaufen und wieder in der Menge zu verschwinden. Wenn sie es denn war. Ein wenig beschämend, mir nicht mehr sicher zu sein, ob ich eine Frau wiedererkenne, auf deren Sofa unser ganzer Deutschkurs in der dreizehnten Klasse einen Abend mit dem ein oder anderen Glas Rotwein verbracht hatte. Gut, damals hatte sie eine Dreiviertelstunde Autofahrt von uns entfernt gewohnt. Sie kurz vor Ladenschluss im heimatlichen Einkaufszentrum zu sehen, ist etwas, was ich nicht erwartet hätte.
Es wäre ganz einfach gewesen: Blickkontakt aufnehmen, lächeln, ein offenes „Hallo, Frau E.!“ Im Falle einer Verwechslung – kein Problem, dann hätte ich es gewusst, nicht weiter tragisch.
Das eigentliche Problem war der Gedanke: „Und wenn sie es tatsächlich ist?“ Würde sie mich erkennen? Der Gedanke, für sie nur eine unter vielen Schülerinnen zu sein, die sie längst vergessen hat, behagt mir weniger, als ich zugeben mag. Und was hätte ich ihr gesagt? Small Talk liegt mir nicht – aber dieser Deutschlehrerin würde ich nur zu gerne erzählen, was ich mittlerweile mache. Ich würde gerne den Gedanken auf ihrem Gesicht lesen können: „Klasse, sie geht ihren Weg!“ Frau E. hatte damals sehr an mich geglaubt – und dann habe ich doch erst einen komplett anderen Weg eingeschlagen, einen, der nicht zu mir passte. Es mag seltsam klingen, aber genau diese eine Lehrerin möchte ich doch irgendwie beeindrucken mit meinem Lebenslauf. Ein bisschen zumindest. Vielleicht sogar stolz machen?
Wie könnte ich das – hätte das, was ich ich ihr auf die Frage: „Und, was machst du so?“ geantwortet hätte, schließlich ungefähr so geklungen:
„Hmm, naja, ich schwimme so rum. Das trockene Studium habe ich durchgezogen und dann erstmal in einer größeren Stadtverwaltung gearbeitet. Naja, seit 2011 mache ich noch ein Fernstudium. Kulturwissenschaften mit Schwerpunkt Literaturwissenschaften. Weil ich ja eigentlich lieber Germanistik studiert hätte. Was mit Büchern machen halt. Jobmäßig hat es mich trotzdem zweieinhalb Jahre lang in ein Maschinenbauunternehmen verschlagen. Interne Assistenz, Buchhaltung … Leider nichts sonderlich Kreatives. Mein Studium läuft auch nicht so schnell, wie ich es gerne hätte. Um es schneller beenden zu können, schlage ich mich mittlerweile mit Praktika und Werkstudententätigkeiten durch. Mit 28! Ob ich überhaupt die Chance auf einem Job im Lektorat eines Buchverlages habe? Mein Lebenslauf bewegt sich mittlerweile eher in PR- und Presse-Richtung – aber dafür bin ich eigentlich viel zu introvertiert! Ich sollte so langsam mal was in Richtung Lektorat machen, sonst war es das … Ich würde mich ja auch gerne selbstständig machen, aber traue mich noch nicht so richtig. Schreiben? Ja, mache ich immer noch. Aber ich habe zu wenig Zeit dafür. Eine Kurzgeschichte pro Jahr, höchstens. Mein Roman ist auch noch nicht fertig – ich hänge leider an kniffligen Plotproblemen fest. Inspiration? Ja, da warte ich derzeit noch drauf. Mit dem Zeichnen habe ich fast ganz aufgehört. Eigentlich wollte ich ja auch bloggen, aber das sage ich seit Monaten nur, kriege es jedoch einfach nicht richtig auf die Reihe …“
Nein, so wollte ich mich ausgerechnet dieser Lehrerin nach fast zehn Jahren nicht vorstellen! Während diese Gedanken durch meinen Kopf rasten, verstrichen auch der Moment und die Gelegenheit innerhalb von Sekunden. Ich wandte den Blick ab, in der Hoffnung, sie hätte mich nicht erkannt oder wäre es doch nicht.
Meine Stimmung war dahin und ich trat geknickt den Heimweg an. Zehn Jahre nach dem Abi hätte ich so gerne anders geantwortet auf die Frage: „Und, was machst du so?“ Klingt nach Endzwanziger-Krise? Vielleicht.
Doch dann trat das ein, was kontemplative Spaziergänge so an sich haben: Meine Gedanken gerieten in Fluss und es formulierte sich eine ganz andere Version der Antwort in meinem Kopf. So muss das doch nicht sein! Ist nicht alles eine Frage der Perspektive? Vielleicht hätten mich die nette Begegnung und ein offenes Lächeln auch dazu gebracht, mich ungefähr so vorzustellen:
„Mein Erststudium war nicht das Richtige für mich – mir wurde ziemlich schnell klar, dass ich nicht mein Leben lang in Verwaltungen und Behörden arbeiten wollte. Also habe ich mich für ein zusätzliches Zweitstudium entschieden, für das mein Herz auch wirklich schlägt. Ich mache das nebenberuflich in Teilzeit und sammle so viele praktische Erfahrungen im kreativen Bereich, wie mir möglich ist. Dreieinhalb Monate Praktikum in einem Kleinverlag. Aktuell Werkstudentin in einer Kommunikationsagentur. Ich weiß genau, wo ich hinwill, und dieses Ziel verfolge ich mit großem Elan. Nächstes Jahr bin ich fertig mit dem Zweitstudium – und sehe mich bereits jetzt nach passenden Volontariaten um. Die ersten Bewerbungen sind schon draußen. Ich habe dann zwei Abschlüsse, die sich hervorragend kombinieren lassen und mir tolle Türen öffnen werden. Vielleicht auch in die Selbstständigkeit. Schreiben? Ja, definitiv! Ich hatte einige tolle Lesungen, unter anderem beim Esslinger Kulturfestival „Stadt im Fluss“ und beim Tübinger Bücherfest; eine meiner Kurzgeschichten ist in einer Anthologie veröffentlicht; ich arbeite mit viel Leidenschaft an meinem ersten Roman. Seit April dieses Jahres bin ich Teammitglied hinter den Kulissen der Schreibnacht und zusätzlich Teil des Lektorats-Teams des dazugehörigen Schreibnacht-Magazins. Es sind wahnsinnig erfüllende Hobbies und mein ganzes Herzblut fließt dort hinein. Ich bin sehr zufrieden mit meinem Weg und freue mich darauf, wo er mich noch hinführen wird!“
Die Begeisterung auch in meinen Tonfall legen. Voilà – eine komplett andere Person, ein komplett anderer Lebenslauf. „Füllen Sie Ihren Lebenslauf mit Leben!“ – eine recht hölzern klingende Personaler-Aufforderung aus einem Bewerbungsgespräch. Mit der ersten Version würde ich wohl keine Stelle bekommen. Dann doch lieber Kopf hoch und zweite Version. Hallo, das bin ich!
Naja, das mit dem Bloggen aus der ersten Version … Das blieb beim Spaziergang vom Einkaufszentrum nach Hause hängen. Ich will einen eigenen Blog? Was hält mich? Eine Sache hat sich im Laufe der Jahre als so eine Art „Geheimrezept“ herausgestellt für schwierige Hürden und „Ich trau mich nicht“s: Einfach machen!
Hier ist er also, mein Blog. Das Menü ist noch nicht so recht nach meinen Vortstellungen und an dem Problem mit Seiten und Kategorien arbeite ich noch. Aber er ist da und ein erster, viel zu langer Beitrag ist geschrieben. Ich freue mich, dieses Projekt endlich angegangen zu sein.
Und ich freue mich über jeden, der bis hierher durchgehalten hat.
Wenn ich übrigens das nächste Mal meiner alten Deutschlehrerin im Einkaufszentrum begegne, dann wende ich mich nicht schüchtern ab. Dann gehe ich einfach auf sie zu und sage: „Hallo, Frau E., wie schön, Sie wiederzusehen!“ Vielleicht ergibt sich dann ja auch eine nette Unterhaltung, in der ich mich nicht präsentieren muss wie in einem Bewerbungsgespräch. 😉 Das wäre tatsächlich meine Lieblingsvariante.